Oft sind es Gedanken oder Sätze die
mir auffallen, mich ansprechen oder in einen inneren Dialog mit mir gehen. Oder ich lese über Biografien von Autorinnen und Autoren, die ich interessant finde, die mich neugierig machen, mehr zu lesen. Bestsellerlisten gehören
nicht zu meiner Lektüre und trotzdem stellen sich viele der literarischen
Kostbarkeiten als Schätze heraus. Wie z.B. die Autorin Olga Tokarczuk, geboren
1962, eine polnische Psychologin und Autorin, die ich im Juni entdeckt habe. Im Jahr 2019
erhielt sie für ihr Buch „Unrast“ rückwirkend
den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2018, der zuvor nicht vergeben wurde.
Heute stelle ich ihr Buch „Der Gesang der Fledermäuse“ vor. Ein moralischer Thriller, so heißt
es im Klappentext, der den Leserinnen und Lesern die Erzählerin, Janina Duszejko,
näherbringt. Sie lebt alleine auf einem Hochplateau des Glatzer Kessel (siehe
unten ***), irgendwo am Rande der zivilisierten Welt, wo sie ihren Leidenschaften, der Astrologie und der Wortkunst - und
ihre Liebe zu Tieren lebt.
Als in ihrer Umgebung eine Leiche nach der anderen gefunden
wird, scheint sie der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein. Dabei nutzt
sie, die allgemein als Verrückte angesehen wird, das „unauffällige
Erscheinungsbild einer alten Frau, oft mit einer Plastiktüte in der Hand“, irgendwo unterwegs auf Feld- und Waldwegen.
Das unauffällige Erscheinungsbild einer alten Frau, steht da. Wo fängt es an? Wie sehe ich ältere Frauen in meinem Alltag, auf meinen Wegen und wie sehen sie mich? Das sind Gedanken, die sich zu ergründen lohnen. Und ich kann mir vorstellen, dass Bücher und die Gedanken anderer Autorinnen hilfreich sind, sich dieser Thematik zu stellen. Noch ein anderer Gedanke keimt in mir auf. Versteckt der Titel noch eine untergründige Botschaft? Dürfen ältere Damen als singende Fledermäuse interpretiert werden? Eine Gattung, die man am Tage nicht sieht und deren Lieder und Gesänge für Menschenohren nicht hörbar sind. Und, deren Aufenthaltsorte als düster und melancholisch gelten dürfen. Hmmm ...
Ich liebe den Roman, die Stimmung des Waldes, die Sprache, die die Autorin erdacht
hat und die vielen nachdenklich stimmenden Sätze, die mich immer wieder
überrascht und erfreut haben. So denkt die Protagonistin beispielsweise über
einen ihrer Nachbarn: „… und es sieht so
aus, als hätte er beschlossen, ein neues Leben zu beginnen, wie jeder, dem die Ideen und die Mittel für das alte Leben
ausgegangen sind“.
Oder sie philosophiert über eine alternde Realität: „Heute
wagt es niemand mehr, etwas Neues zu denken. Alle sagen nur pausenlos, wie es
ist, und spinnen die alten Gedanken weiter.“
Das sind Gedanken, die man stundenlang weiterspinnen könnte
und oft tue ich das auch für mich, in meinem Kämmerlein und auf meinen
Spaziergängen.
Eine Theorie, die die Autorin ihre Ich-Erzählerin denken
lässt, fasziniert mich ebenfalls sehr. Sie schreibt: „ … Ich glaube nämlich, unsere menschliche Psyche ist dazu da, um uns vor
dem Anblick der Wahrheit zu bewahren. Um uns keinen direkten Einblick in den
Mechanismus zu erlauben. Die Psyche ist unser Immunsystem - sie sorgt dafür,
dass wir niemals verstehen, was um uns herum vorgeht. Hauptsächlich ist sie
damit befasst, Informationen zu filtern, auch wenn die Möglichkeiten unseres
Gehirns gigantisch sind. Doch alles Wissen wäre nicht zu ertragen. Denn jedes
kleinste Teilchen der Welt ist aus Leid zusammengesetzt. ..."
So verwundert eigentlich das fulminante Ende des Romans
nicht wirklich. Die Autorin hat zwar Hinweise gestreut, die aber in meinem
Lesefluss untergegangen sind. Erst beim Nachlesen wurden sie für mich sichtbar.
Ich hatte der Protagonistin zu viel Aufmerksamkeit entgegengebracht, und mein ungefiltertes Wohlwollen,
vielleicht…
Vielleicht konnte ich euch neugierig machen auf dieses feine, nachdenkliche Buch und hoffe, dass ich nicht zu viel verraten habe. Meine Ausgabe ist die
erste Auflage der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 2011. Verlegt wurde das Buch
bei Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main.
*** Glatzer Kessel (polnisch Kotlina
Kłodzka, tschechisch Kladská kotlina) ist
eine geographische Bezeichnung für ein Gebiet innerhalb der ehemaligen Grafschaft
Glatz. Das Gebiet entspricht seit Kriegsende 1945 weitgehend dem
polnischen Powiat Kłodzki. Nach petrologisch-tektonischen Gesichtspunkten
gehört es zum Landschaftsraum der Innersudetischen Senke.
Quelle: Wikipedia
|
KI-generiertes Bild |