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Juni 14, 2025

Wenn Schweigen Gesetz wird – Ein dystopischer Ruf aus hundert Worten

 Stell dir vor, jeder Tag hätte ein Kontingent: 100 Worte.

Hundert Tropfen aus dem Ozean deines Denkens.
Hundert Atemzüge für Liebe, Schmerz, Wut, Trost, Erkenntnis.
Was würdest du sagen? Und worüber würdest du schweigen?

Christina Dalchers Roman Vox führt uns in eine Welt, in der Schweigen Pflicht ist — nicht aus Schüchternheit, sondern aus politischem Kalkül. Mädchen und Frauen dürfen nur noch hundert Worte am Tag sprechen. Wer diese Grenze überschreitet, wird durch ein Armband mit Stromstößen bestraft.

Diese fiktive Zukunft ist so beängstigend real, weil sie Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel versteht, sondern als Schlüssel zur Macht – und deren Entzug als Wurzel aller Kontrolle.

Sprache ist Macht – und Schweigen ist Politik

Sprache ist unser innerstes Territorium. Sie ist das Feld, auf dem Gedanken wachsen, die Brücke, auf der wir einander begegnen, das Haus, in dem unsere Würde wohnt.

In Vox wird Sprache zur Waffe – und ihre Begrenzung zur Zensur der Seele. Frauen verschwinden aus öffentlichen Debatten, aus der Forschung, dem Unterricht, den Entscheidungsgremien. Ihre Gedanken bleiben ungesagt, ihre Stimmen ungehört.

Doch ist das wirklich Zukunftsmusik? Oder erleben wir bereits eine leise Vorform – eine Gesellschaft, in der Frauen sich oft zurücknehmen, unterbrechen lassen, ausbremsen?



 Jean McClellan – eine Frau im Zwielicht des Erwachens

Die Protagonistin Jean ist keine Heldin mit Schwert, sondern mit Sehnsucht.
Sie ist Mutter, Wissenschaftlerin, eine, die gelernt hat, sich einzufügen – bis zu jenem Moment, an dem Schweigen nicht mehr erträglich ist. Jean beginnt zu begreifen: Schweigen schützt nicht.
Es konserviert das Unrecht.

Und doch bleibt sie oft allein. Die weibliche Allianz, die man in solch einer Erzählung erhofft, bleibt blass. Die Rebellion ist kein Chor, sondern ein Solo – und das schmerzt. Denn echte Veränderung beginnt nicht mit Einzelnen, sondern mit Gemeinschaft.

 



Ist das schon Realität – oder noch Fiktion?

Deutschland:

  • Frauen verdienen im Durchschnitt weniger.
  • Ihre Stimmen werden seltener gehört, sei es in Talkshows, Vorstandsetagen oder politischen Gremien.
  • In sozialen Netzwerken sind sie überdurchschnittlich von digitalem Hass betroffen.
  • Der Zugang zu selbstbestimmter Gesundheitsversorgung bleibt ein politisches Dauerthema.

Weltweit:

  • In Afghanistan ist Bildung für Mädchen gefährlich.
  • Im Iran riskieren Frauen ihr Leben, wenn sie tanzen, sprechen, singen.
  • In vielen Staaten werden Grundrechte Schritt für Schritt zurückgebaut – Sprache, Pressefreiheit, Zugang zu Informationen.

 

Was tun mit hundert Worten?

Vox ist kein Zukunftstrauma, sondern ein Weckruf.
Ein Flammenzeichen in Zeiten, in denen viele Frauen immer noch gegen das Verstummen ankämpfen müssen – sei es im Beruf, in der Familie, auf der Straße oder in der Politik.

Was also tun, wenn man hundert Worte zur Verfügung hat? Man könnte sie schweigend zählen.
Oder sie setzen wie Samen – für andere, für uns selbst.

Denn aus hundert Worten kann ein Gedicht wachsen, ein Widerstand, ein Aufruf. Manchmal genügt ein Satz, um eine Tür zu öffnen. Manchmal genügt ein Nein, um eine Kette zu sprengen. 


 „We will not be silenced.”
Vox

Wenn du heute sprichst – wenn du deiner Tochter, Freundin, Schwester, deiner Mutter zuhörst –
wenn du für dich selbst das Wort erhebst: Dann bist du Teil des Lichts, das das Schweigen durchbricht.

Also sag es.
Schreib es.
Flüstere es in den Wind.
Du hast mehr als hundert Worte verdient.
Du hast das ganze Alphabet im Herzen.

 




4 Kommentare:

  1. Die Sprache ist so ein wertvoller, so ein unfassbarer Schatz, der uns Menschenkindern geschenkt worden ist. Mit dem Geben von Namen für all die Tiere und Erscheinungen dieser Welt haben wir die Tiere, Pflanzen, Steine und Berge, Seen und tausend Phänomene sogar uns zu eigen und be-greifbar gemacht. Welch eine Macht! Sprache darf nicht missbraucht und nicht kaputt gemacht oder verunstaltet werden. Sprich, flüstere, schreib und singe, was dir aufgetragen ist, was deine Seele sagen und singen will und muss, und niemand darf dir Schaden zufügen.
    Einige Gedankenstücke mit lieben Grüßen von Dori

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    1. Soeben wurde mir von Kornelia folgedes altes Gebet zugesendet :

      Hl. Nerses Schnorhali (1102-1173)
      armenischer Patriarch


      Gewähre mir, stets mit deinem Wort zu sprechen!

      Tag für Tag höre ich mit den Ohren meines Leibes

      Deine Weisung,

      Überhaupt nicht zu schwören,

      Weder bei den Dinge der Erde noch beim Himmel.

      Ich aber verstopfe die Ohren meiner Seele

      Und lasse Dein Wort nicht hinein,

      Sondern tue das Gegenteil

      Und missachte Dein Gebot.

      Du aber, himmlischer Atem, der Du als Werkzeug des Wortes

      Gedanken und Sprache gegeben hast,

      Öffne meinen Mund durch Deinen Geist,

      Und fülle ihn mit geistlichem Segen.

      Damit ich vom göttlichen Gesetz spreche,

      Von der Frohen Botschaft des Neuen Bundes,

      Von der Weisheit der Lehre

      Und dem Geheimnis des Tuns.

      Halte fern von mir das entzweiende Wort,

      Die nicht vergebbare Lästerung,

      Die schmähende Klage

      Und das verleumderische Geflüster;

      Die Täuschung des Nächsten,

      Den treulosen Verrat,

      Den meineidigen Schwur,

      Und die Lüge, die dem Bösen eigen ist;

      Die teuflische Geschwätzigkeit,

      Die Prahlerei des Hochmütigen,

      Und überhaupt alle Wortergüsse,

      Die, einmal ausgesprochen, bereut werden.

      Gewähre mir das Wort, o Du fleischgewordenes Wort,

      Damit ich immer mit Deinem Wort spreche,

      Damit ich es als Gnade meinem Zuhörer weitergebe,

      Um die niedergeschlagene Seele aufzurichten.

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  2. danke für dieses Vorstellen dieses Buch und Posting!
    Wahre Worte die laut werden lassen für die Frauen!
    Lieben Sonntaggruss Elke

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  3. selten habe ich stärkere Worte gehört - das Flüstern des Schweigens viel öfter beklommen vernommen - man muss sich fürchten vor dem Dämon des Schweigen-denn es verbirgt alles was Sprache heißt - die Gemeinsamkeit verbindet die Welt der Sprache und des Verstehens...die Welt der Frauen...
    danke dafür - dass du sprichst...was unrecht ist.
    herzlich Angel

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